Liebe Leserinnen und Leser,
Eines der wundervollsten Bücher aller Zeiten hat jetzt eine Fortsetzung, die allerdings vorher entstanden ist. Die junge Harper Lee reichte ihren Erstling „Gehe hin, stelle einen Wächter“ 1957 einem Verlag ein, das Buch wurde aber abgelehnt und letzten Monat erst unter etwas dubiosen Umständen veröffentlicht. Warum hat Harper Lee das Buch nach dem Millionenerfolg von „Wer die Nachtigall stört“ nie veröffentlicht? Wurde die 89 Jahre alte Autorin jetzt überhaupt gefragt bzw. weiß sie überhaupt von der Veröffentlichung? Zerstört das Buch einen amerikanischen Mythos um die Figur des Atticus Finch, Kämpfer für Recht und Gerechtigkeit und Identifikationsfigur einer ganzen Generation?
„Wer die Nachtigall stört“ ist die Geschichte des Anwalts Atticus Finch und seiner Kinder, Jem und der Ich-Erzählerin Scout, im amerikanischer Süden der 30er Jahre. Atticus Finch verteidigt einen jungen Schwarzen, der beschuldigt wird, eine Weiße vergewaltigt zu haben, und macht damit seine ganze Familie zu Ausgestoßenen. Das Buch gilt in den USA als das einflussreichste Buch nach der Bibel, ist Schullektüre, steht seit dem Erscheinen 1960 permanent in den US Top 100, gewann den Pulitzerpreis, setzte diesen Erfolg weltweit fort und ist auch heute noch aktuell – und dank seiner Erzählkraft und dem Identifikationspotential, das seine Figuren bieten, für Leser jeden Alters wunderschön zu lesen!
„Gehe hin, stelle einen Wächter“ spielt 20 Jahre später. Scout, die jetzt ihren Geburtsnamen Jean Louise bevorzugt, kehrt einmal im Jahr von New York nach Alabama zurück, um ihren Vater zu besuchen, und beginnt am Helden ihrer Kindheit zu zweifeln. Ist der ehemals so tolerante Atticus doch ein Rassist? Lee zeigt am Beispiel der Familie Finch und der mit ihnen verbundenen Personen, was die Menschen in den Südstaaten über die Rassentrennung dachten, und wie das Erstarken der Bürgerrechtsbewegung den Weißen Angst machte und neues Misstrauen schuf, die vormals klaren Verhältnisse für den Einzelnen immer komplizierter wurden.
Zweifelt auch der Leser an Atticus und der Qualität des Buches, oder stellt es einfach nur die gesellschaftlichen Strömungen von den 50er Jahren bis heute realistischer dar, fern von den moralischen Gewissheiten der Dreißiger und dem Idealismus von „Wer die Nachtigall stört“? Rassismus gibt es immer noch, nicht nur in den Südstaaten, aber viel komplexer und häufig versteckt und schwieriger aufzudecken als früher.
Das Urteil soll sich jeder Leser selber bilden, die Stadtbibliothek besitzt ein Exemplar des neuen Buches, dazu noch eines als Bestseller ( 2 Wochen / 2 € ), „Wer die Nachtigall stört“ ist zweimal im Bestand, dazu noch eine Interpretationshilfe für die englischen Ausgabe, und auch der berühmte Film von 1961, für den Gregory Peck in der Hauptrolle als Atticus Finch den Oscar gewann, auf DVD.
Ach ja: unbedingt lesen!!!
Lee, Harper:
Gehe hin, stelle einen Wächter : Roman. – 2. Aufl. – München : Dt. Verl.-Anst., 2015. – 300 S.
Aus dem Engl. übers.
ISBN 978-3-421-04719-9 fest geb. : 19,99 €
# Nordamerika
SW: Südstaaten, Rassismus, Gesellschaft, Vater –Tochter, Familie
Es grüßt Sie,
Ursula Hensel
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