Liebe Leserinnen und Leser,
vorne im Einband der Stammbaum derer von Haxthausen, alter Landadel aus dem Westfälischen, hinten im Einband eine Karte mit dem Bewegungsradius eben dieser Familie. Nicht mehr als 200 km im Umkreis des Stammsitzes Bökerhof bei Paderborn.
Ein gesellschaftlicher und geographischer Mikrokosmos zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Und mittendrin die Hauptperson: Fräulein Nette, heute besser bekannt als Annette von Droste-Hülshoff.
Dass sie einmal eine der bedeutendsten deutschen Dichterinnen sein wird, weiß sie zum Zeitpunkt der Handlung natürlich noch nicht.

Es ist die eine Geschichte über Liebe und Leidenschaft.
Sommer 1820, Fräulein Nette ist jung, gebildet, voller Tatendrang und blitzgescheit. Sie verliebt sich in einen Freund der Familie, leider nicht standesgemäß. Sie liebt das Singen, Schreiben und Diskutieren, das ist leider auch nicht standesgemäß. Denn wie soll eine junge Frau, zumal wenn adelig, in dieser Zeit sein? Sittsam, bescheiden und rein. Genau so. Mehr nicht. Und damit ist ausreichend Stoff für einen spannenden Roman vorhanden.
Der hervorragend recherchierte Roman ist allerdings weit mehr als ein Ausschnitt aus dem Leben der jungen Droste. Er ist vielmehr ein Sittengemälde par excellence der Zeit nach dem Ende der napoleonischen Herrschaft, nach der Neuordnung Europas am Vorabend der gesellschaftlichen Umwälzungen des 19. Jahrhunderts.
Denken und forschen, leben und arbeiten im Spannungsfeld zwischen Restauration und Aufbruch. Geschildert am Beispiel der Adelsfamilie von Haxthausen und Droste-Hülshoff.
Die einen halten fest am Glauben, an Regeln und Konventionen, an Stand und Rang und Namen. Andere streben nach Erneuerung und Entdeckung, nach Wissen und Macht, nach Teilhabe in jeder Hinsicht. Das eine wie das andere ist Männersache.
Das muss gerade die hochbegabte, wissbegierige und bildungshungrige Annette von Droste-Hülshoff schmerzhaft erfahren. Während Männer forschen, entdecken, schreiben (zum Beispiel Humboldt die Welt, Montgolfier die Luftfahrt, Franklin den Blitzableiter, Heine die Erneuerung der Literatur und die Gebrüder Grimm die Märchen) werden ambitionierte Frauen wie die Droste in ihrem Milieu dazu gezwungen, ihre Lebenszeit mit unfassbar stumpfsinnigen Arbeiten regelrecht zu verplempern.
Hochinteressant und spannend dabei das Drumherum. Da schöpft die Autorin aus dem Vollen. Sie beschreibt wie man aß und trank, wie man wohnte und lebte, wie man sich kleidete und reiste, wie man auf adeligen Landsitzen die Zeit totschlug und in Wirtshäusern zechte, wie man miteinander redete oder auch nicht, wie man intrigierte, die Fesseln von Glauben und Konvention aufrechterhielt oder versuchte, sie zu sprengen.
Und wer das liest ist mittendrin. Satte 600 Seiten großes Kopfkino. Karen Duve hat einen historischen Roman geschrieben, und was für einen. Chapeau! Fesselnd, packend, erhellend, lesenswert!
Es grüßt Petra Goerge,
die nach dieser Lektüre nicht nur das Euskirchener Stadtmodell mit anderen Augen sieht.
P.S. Ein herzlicher Gruß und Dank an die ehemalige Kollegin Ursula Hensel, die mir diesen Roman so sehr ans Herz gelegt hat.
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